Mit Einschränkung studieren
Aus der ‚Studierendenbefragung in Deutschland: best3. Studieren mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung‘ des Deutschen Studierendenwerks gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung geht hervor, dass 16 % aller Studierenden eine studienerschwerende Beeinträchtigung haben.
Nicht alle davon beantragen einen Nachteilsausgleich, da es ihnen schwerfällt, ihre Beeinträchtigung zu akzeptieren und/oder sie diskriminierendes Verhalten fürchten.
Derzeit sind in Deutschland schätzungsweise 3 Millionen Studierende immatrikuliert – 16 %, also knapp eine halbe Million davon studieren also mit irgendeiner Art Beeinträchtigung ...
Die Gleichstellung ist die rechtliche Grundlage, Student:innen mit Einschränkung gleich oder eben fair zu behandeln. Umsetzen können wir das durch den sog. Nachteilsausgleich – aber ob der immer passend ist oder wir daneben liegen? ... Ich würde behaupten: Diese Studierenden haben es grundsätzlich schwieriger als reguläre Studierende.
Um herauszufinden, was du als Betroffene:r beachten solltest oder Bekannten mit Einschränkung aus deinem Studienumfeld raten kannst, haben wir mit vier Beauftragten universitärer Inklusionsstellen über Folgendes gesprochen:
- Wenn ich als beeinträchtigter junger Mensch mit dem Studium anfangen möchte, was sollte ich da beachten?
- Welche Hilfsangebote können betroffene Studierende annehmen?
- Müssen für die Beratung/die Hilfsangebote Voraussetzungen erfüllt werden?
- Wie ist das Vorgehen, wenn Hilfe gebraucht wird?
- Tipps für Studierende mit Beeinträchtigung – um sich das Studium zu erleichtern
- Wo könnte in puncto Unterstützung von Seiten der Universitäten noch nachjustiert werden?
Hard Facts: Die wichtigsten Punkte als Kurzanleitung zusammengefasst findest du unter dem Interview nochmal in kompakt!
Als Interviewpartner:innen standen uns zur Verfügung:
- Nina Savarini, Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt,
- Christoph Schlomach, Beauftragter für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung und Leiter der Zentralen Studienberatung, Universität Heidelberg,
- Dr.-Ing. Ulrich Eggert, Beauftragter für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, Universität Stuttgart
- und Hanna Astafan, Studienberater, Schulkontakte, Systemischer Berater, Integrationsberater, Behindertenbeauftragter, Otto-von-Guericke Universtität Magdeburg.
Grundlegend können die Hilfsangebote für und Anforderungen an Studierende mit chronischen Erkrankungen und Behinderung je nach Bundesland und Uni unterschiedlich sein. Dieser Artikel will einen allgemeinen Einblick in die Thematik geben – für Details solltest du dich immer an das Inklusionsbüro deiner (zukünftigen) Universität wenden.
Good to know: Was ist ein Nachteilsausgleich?
Universitäten und Hochschulen stellen durch den Nachteilsausgleich sicher, dass beeinträchtigte oder chronisch erkrankte Student:innen in ihrem Studium nicht benachteiligt werden. Wie ein Nachteilsausgleich aussieht, hängt immer von der individuellen Situation der betroffenen Studierenden ab. Anlaufstelle für weitere Informationen ist die Inklusionsstelle, Beratungsstelle für Behinderung und chronische Erkrankungen, deiner Universität.
Behinderungen und Beeinträchtigungen können in ganz unterschiedlichen Formen auftreten – z.B. körperliche oder psychische Erkrankungen, aber auch Teilleistungsstörungen wie Legasthenie. D.h.: Die Bedürfnisse jeder einzelnen Person mit Beeinträchtigung sind sehr verschieden.
Wenn ich als beeinträchtigter junger Mensch mit dem Studium anfangen möchte, was sollte ich da beachten?
Studierende mit Beeinträchtigung haben ein Recht darauf, diskriminierungsfrei und chancengleich zu studieren. Das regeln die UN-Behindertenkonvention, das Grundgesetz, das Hochschulrahmengesetz und die Landeshochschulgesetze.
Schlomach: Alle, deren Teilhabe und Aktivität im Studium gesundheitlich beeinträchtigt ist, können sich für Unterstützung an das Team Inklusives Studieren wenden. Das gilt bspw. für Studierende mit chronischen Erkrankungen wie z.B. Migräne, Epilepsie, Autismus oder Teilleistungsstörungen wie Legasthenie, Dyskalkulie oder Hör-, Seh-, Sprech- oder Bewegungsbeeinträchtigung sowie psychischen Erkrankungen wie z.B. Depressionen, Angst- und Essstörungen oder Psychosen.
Astafan: Es gibt einige wichtige Punkte zu beachten, um einen erfolgreichen Studienstart zu gewährleisten:
- Rechtzeitige Beratung wahrnehmen
- Über Barrierefreiheit vor Ort informieren
- Für Nachteilsausgleiche und Unterstützungsangebote anmelden
- Assistenz und Hilfsmittel in Anspruch nehmen
- Flexible Studienformen in Erwägung ziehen
Die Hilfsangebote können alle Studierende nutzen, die beeinträchtigt sind – dazu muss die Einschränkung weder als Schwerbehinderung anerkannt, noch äußerlich sichtbar sein.
Savarini: Wichtig ist es, zu Beginn des Studiums zu klären, was genau die Herausforderungen sind: Was brauche ich, um gut studieren zu können? Was sind meine Bedürfnisse? Wir als Beauftragte unterstützen dabei gerne. Wir stellen sowohl für Studieninteressenten als auch Studierende Informationen bereit und beraten, z.B. zum Thema Nachteilsausgleich bei Prüfungen. Wir vermitteln aber auch zu den richtigen Ansprechpartner:innen bei anderen Anlaufstellen, z.B. zur Studienfinanzierung, zum Thema Wohnen oder zu Fragen rund um Auslandsaufenthalte während des Studiums.
Was auch immer dazu gehört ist natürlich eine möglichst ehrliche Selbsteinschätzung was die eigenen Fähigkeiten sind. D.h. sich einen Studiengang rauszusuchen, der einem nicht liegt, bei dem man sagt: ‚na ja, mit Nachteilsausgleich klappts vielleicht irgendwie‘ – das hat mit oder ohne Einschränkungen keinen Sinn.
Welche Hilfsangebote können betroffene Studierende annehmen?
Savarini: Da die Formen der Beeinträchtigungen sehr unterschiedlich sein können, gibt es auch unterschiedliche Hilfsangebote, die Studierende in Anspruch nehmen können. Grundsätzlich sind wir die erste Anlaufstelle, an die sich Betroffene wenden können. Wir beraten zum Thema Nachteilsausgleich und sprechen mit den Studierenden darüber, welche Formen infrage kommen könnten. Außerdem unterstützen wir Betroffene konkret bei der Antragsstellung.
Astafan: Betroffene Studierende profitieren von einer barrierefreien Infrastruktur, Möglichkeiten zur technischen Unterstützung sowie von Beratungsangeboten durch die Behindertenbeauftragten der Fakultäten.
Die Lehrveranstaltungen an der Universität sollen so gestaltet sein, dass alle daran teilnehmen können. Voraussetzung dafür ist, dass unsere Studierenden ihre Bedarfe frühzeitig nennen, damit Dozierende entsprechend reagieren können. Sollte es hier einmal Schwierigkeiten oder Konflikte geben, können Studierende sich an uns als Beauftragte wenden.
Schlomach: Die Angebote richten sich natürlich nach dem individuellen Bedarf. Das können bspw. organisatorische Maßnahmen wie die Verlagerung von Lehrveranstaltungen in barrierefreie Räume, aber auch die Anschaffung von Unterstützungsmaterialien wie spezielle Arbeitsplatzaustattungen oder mobile Rollstuhlrampen sein. Wir beraten zudem zu Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs für studien- und prüfungsrelevante Aktivitäten, wie z.B. Fristverlängerungen, barrierefreien Seminarunterlagen oder umgewandelten Prüfungsformaten. Auch bei Anträgen auf Eingliederungshilfe für Mobilitätstrainings, technischer Ausstattung oder Studienassistenzen unterstützen wir.
Savarini: Darüber hinaus gibt es viele Stellen, die Studierende mit und ohne Beeinträchtigungen unterstützen:
- das International Office ermutigt Studierende mit Beeinträchtigungen, Studienaufenthalte und Praktika im Ausland wahrzunehmen. Die Kolleg:innen beraten zu speziellen Fördermitteln und organisatorischen Fragen, damit Auslandsaufenthalte auch für Studierenden mit Beeinträchtigungen möglich sind,
- die Studierenden- und Karriereberatung,
- die Fachstudienberatungen,
- die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte,
- das Zentrum für Ehe und Familie in der Gesellschaft,
- die Katholische Hochschulgemeinde,
- der Studentische Konvent sowie studentische Gruppen wie der AK Mental Health,
- das Team von ausgebildeten Ersthelfer/-innen für psychische Gesundheitsprobleme (Mental Health First Aid), an die sich Studierende schnell und unkompliziert wenden können,
- das Studierendenwerk, das z.B. die psychologische Beratung, Beratung zum BAföG oder die Sozialberatung anbietet.
Müssen für die Beratung/die Hilfsangebote Voraussetzungen erfüllt werden?
Eggert: Es ist wichtig, dass die Studierenden ausdrücken können, wo ihre Nachteile liegen – bzw. eigentlich wichtiger, dass ihre Ärzte und Ärztinnen das ausdrücken können. An der Uni Stuttgart berate ich dahingehend, dass wir nicht Diagnosen ausgleichen, sondern Symptome, also Nachteile. Das heißt aber: es nützt nichts, wenn Mediziner:innen eine tolle Diagnose abgeben und sagen: ‚Bitte um Nachteilsausgleich‘. Sie müssen die Symptomatik beschreiben, deren Auswirkungen auf entsprechende Prüfungsleistungen oder das Studium selbst. Daraus abgeleitet – und gemäß den Vorgaben der Prüfungsordnung – sollte dann eine möglichst konkrete Empfehlung für einen Nachteilsausgleich abgegeben werden.
Nicht für alle Unterstützungsangebote braucht man ein Attest – anders ist es beim Nachteilsausgleich.
Savarini: Für den Nachteilsausgleich müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Als Nachweis für eine studienerschwerende Beeinträchtigung muss ein fachärztliches, manchmal auch hausärztliches Attest oder eine Stellungnahme des Psychotherapeuten vorgelegt werden, das eine Empfehlung enthält, in welcher Form der Nachteil ausgeglichen werden kann.
Wie ist das Vorgehen, wenn Hilfe gebraucht wird? Schritt 1: Man vereinbart einen Termin zur Einzelberatung, richtig? Und dann …?
Eggert: Man sollte möglichst früh Kontakt zur Beratungsstelle aufnehmen, am besten schon vor dem Studium und dort erzählen, was genau die Einschränkungen sind: Womit hast du Schwierigkeiten? Was kannst du nicht, wie andere es können? Das Warum sollte erstmal gar keine Frage sein, sondern nur das was. Und dann muss man im Einzelfall eben schauen, was sich tun lässt, damit das mit dem Studium auf eine faire Art und Weise klappt.
Savarini: Betroffenen Studierenden empfehlen wir, sich möglichst schon zu Beginn des Studiums auf unserer Webseite einen allgemeinen Überblick über die Thematik zu verschaffen. Dann können sie einen Beratungstermin vor Ort oder online vereinbaren – je nachdem, was der Person lieber ist. Dabei besprechen wir dann ihr genaues Anliegen und die nächsten Schritte, die in der Regel sehr individuell sind.
Eggert: Braucht man dann einen Nachteilsausgleich, braucht man dafür ein Attest. Da aber lieber erst in die Beratung gehen, damit wir darüber sprechen können, was in dem Attest drinstehen sollte und was bitte nicht – damit das auch die Aussicht hat zufriedenstellend genehmigt zu werden.
Astafan: Der Antrag auf Nachteilsausgleich muss zwei Wochen vor dem jeweiligen Sitzungstermin des Prüfungsausschusses im Prüfungsamt eingehen. Die Termine werden auf der Internetseite des Prüfungsamtes kommuniziert. Nachdem der Prüfungsausschuss über den Antrag entschieden hat, erfolgt die Rückmeldung an die Studierenden in Form eines schriftlichen Bescheids. Die Beratungsstellen begleiten den Gesamtprozess und unterstützen bei Bedarf
Tipps für Studierende mit Beeinträchtigung – um sich das Studium zu erleichtern
Savarini: Es ist wichtig, sich zu informieren und eine Einzelberatung in Anspruch zu nehmen.
Viele Studierende mit Einschränkung denken, sie brauchen sofort Atteste und das schreckt sie dann ab.
Eggert: Ich werde manchmal gefragt braucht es einen Behindertenausweis oder irgendwelche Berichte vom Arzt braucht oder sonstiges? Nein, es geht darum, dass plausibel gemacht wird, was die Nachteile sind – und über die müssen wir erst mal reden.
Es ist oft nicht einfach, eigene Beeinträchtigungen anzuerkennen und sich Dritten gegenüber zu offenbaren. Studierende sollten aber nicht aus Angst vor Diskriminierung oder Scham auf ihren Anspruch auf Nachteilsausgleich verzichten!
An der Uni Heidelberg können, nach Christoph Schlomach, auch sog. ’Peers’ vermittelt werden, also Studierende höherer Semester, die bei der ersten Orientierung vor Ort zur Seite stehen. Das Angebot sollten vor allem Studienanfänger:innen unbedingt nutzen.
Mit Selbstvertrauen und -fürsorge könnten Studierende mit Beeinträchtigung wirksam dazu beitragen, achtsam gesund zu leben und Herausforderungen im Studium zu meistern.
Wo könnte in puncto Unterstützung von Seiten der Universitäten noch nachjustiert werden?
Viele Studierende wissen gar nicht, dass es Unterstützungsangebote für sie gibt – und da kann ich nicht mehr machen als zu veröffentlichen und darüber zu reden.
Eggert: Ganz konkret würde ich aber auch weiter gehen: Es geht nicht nur um die Beratungsangebote, es geht auch darum, wie wir vielleicht Lehrinhalte, Lehrarten und auch Prüfungsarten modifizieren könnten, damit Menschen mit Einschränkungen kein Nachteilsausgleich brauchen und die, die keine Einschränkungen haben, auch nicht besser oder schlechter gestellt sind. Warum müssen bspw. manche Hilfsmittel wie Geräusch-Unterdrückende-Kopfhörer überhaupt erst beantragt werden? Wieso kann man nicht sagen: wenn sie keine Internetverbindung haben, sondern nur Stör-Geräusche ausblenden, darf sie jeder einfach benutzen?
Das heißt, wenn wir Prüfungsformate so anpassen, dass sie quasi allen von Vorteil sind und keinem schaden – dann reden wir nicht mehr von Studierenden mit Gleichstellung, dann leben wir es.
Kurzanleitung – Die wichtigsten Punkte auf einen Blick
- Informiere dich rechtzeitig über die Inklusionsstelle deiner Universität – am besten schon vor dem Studium.
- Nimm Kontakt mit einem den Beauftragten auf und vereinbare einen Beratungstermin.
- Versuche beim Ersttermin schon dich selbst so gut wie möglich einzuschätzen, heißt alle deine Symptome und alle Dinge, die dir schwerer fallen als anderen und fürs Studium relevant sind, zu benennen.
- Finde mit dem/der Beauftragten zusammen Lösungsansansätze.
- Lass dich über einen potenziellen Nachteilausgleich aufklären und sprich im Detail ab, wie dieser aussehen könnte und welche Unterlagen und Atteste du dafür wo einreichen musst.
- Teste eine Weile, ob die Hilfestellungen dir ausreichen/passen und es auch mit den Prüfungen so für dich funktioniert.
- Scheu dich nicht, bei Schwierigkeiten oder wenn die Unterstüzung dir nicht ausreicht, Kontakt mit der Inklusionsstelle aufzunehmen und gemeinsam nachzujustieren.
(studierendenwerke/Savarini/Schlomach/Eggert/Astafan/SALI)